Der Vertrauensmann des Kirchenvorstands Jürgen Schwalme hat aus Anlass des 8. Mai 2020 Erinnerungen und Gedanken zu einem großen Holzkreuz aufgeschrieben, das auf dem Mainburger Friedhof steht und an welchem seit Jahren ein Teil der Gedenkfeier am Volkstrauertag stattfindet.
Im Jahr 2020 erinnern wir uns an das Ende des zweiten Weltkriegs vor 75 Jahren. Viele von den Zeitzeugen sind in der Zwischenzeit gestorben.
Auch meine Großeltern und mein Vater können ihre Erinnerungen schon lange nicht mehr erzählen. Sie sind in ihrer zweiten Heimat, in Mittelfranken begraben. Die fröhlichen Gartenfeste mit ihm, der ganzen großen Familie, den Onkeln und Tanten und einem Glas Bier zum Anstoßen finden leider nicht mehr statt. Auch die Geschichten von Flucht und Vertreibung sind damit fast verstummt. So soll dieser Text ein kleiner Beitrag gegen das Vergessen sein, selbst wenn es in der Zwischenzeit unzählig ähnliche, aufgeschriebene Geschichten gibt.
Es soll auch daran erinnert werden, dass durch die NS-Diktatur ein Klima entstand, das die Seelen der Menschen aufs grausamste verroht hat und dass Verbrechen durch Menschen jeder Nation verübt wurden. Dies darf nie wieder geschehen und es bleibt eine immerwährende Aufgabe, auch für uns, gewalttätige nationalistische und rassistischen Gedanken schon im Ansatz zu bekämpfen.
Meine Familie väterlicherseits stammt aus Niederschlesien und lebte in der Gegend südlich von Breslau - Wrocław. Meine Großmutter Magdalena stammte aus Schön-Ellguth - Ligota Piękna, 15 km nördlich von Breslau - Wrocław, und war die Tochter eines Ziegeleimeisters. Dort hat sie wohl auch meinen Großvater Alfred kennengelernt, er war Maurer von Beruf. Sie heirateten und bauten sich im Haus seiner Eltern eine Existenz auf. Es war das kleine Dorf Eichau - Dębowiec, bei Münsterberg - Ziębice, zusammen mit ihren vier Kindern Eva-Maria, Heinz, Georg und Rudi. Das Dorf hatte etwa 50 Einwohnern, eine Schule, einen Fußballplatz, einen Dorfteich und eine kleine Kirche aus dem Jahr 1834, dem heiligen Antonius geweiht. Die gesamte Familie war katholisch. Die Geschwister von Alfred lebten im drei Kilometer entfernten Münsterberg - Ziębice, einer richtigen Kleinstadt mit der „Boxerwiese“ auf der manchmal Box-Wettkämpfe ausgetragen wurden.
Alfred konnte gut mit Pferden umgehen und deshalb war er in der Wehrmacht im zweiten Weltkrieg in einer Versorgungskompanie und kümmerte sich um Pferdefuhrwerke. Die Mutter Magdalena war mit ihren Kindern allein zuhause. So war es auch im Januar 1945 als die russische Front gegen Westen vorrückte und im Januar langsam Breslau einschloss.
Von den Russen hörte man Furchtbares. Sie rächten sich auf grausame Weise für die Kriegsverbrechen der Nationalsozialisten, der Wehrmacht eingeschlossen. Diese hatten tausende Dörfer niedergebrannt, gemordet und geschändet und waren für den Tod von offiziell rund neun Millionen Sowjetsoldaten verantwortlich. Aus Angst vor grausamen Misshandlungen an der Zivilbevölkerung machten sich unendlich viele, zu Hause zurückgebliebene, Deutsche auf und flüchteten vor der vorrückenden russischen Front.
Mitte Februar 1945 war es kalt, es gab Temperaturen von -20°C. Auch in Eichau war die Evakuierung notwendig und es wurde innerhalb kürzester Zeit von den Verantwortlichen des Dorfes ein Treck aus Pferdefuhrwerken gebildet. Mitgenommen würde nur das Allernötigste der Familien: Das Bettzeug gegen die Kälte und ein kleiner Kastenwagen, der hinten ans Fuhrwerk gebunden wurde. Dort hinein kam auch ein Sack mit dem geräucherten Schweinefleisch. Der Abmarsch führte über Münsterberg an der „Boxerwiese“ vorbei immer in Richtung Westen, immer weiter und weiter, Richtung Riesengebirge.
Die Mutter Magdalena war zu der Zeit 41 Jahre alt, Eva Maria war elf Jahre und Heinz fast neun. Die beiden Kleinen waren Georg mit 8 und Rudi mit 6 Jahren. Ihr Mann Alfred war 36 Jahre alt und natürlich, wie jeder Soldat, irgendwo an der Front im Osten. Gut, dass die anderen Dorfbewohner im Treck mit dabei waren, dies gab doch ein wenig Sicherheit.
In manchen Dörfern konnte man einige Tage rasten und sich ein wenig aufwärmen, aber immer war es kalt und es gab wenig zu essen. Einmal machte man in einem Dorf mehrere Tage zum Übernachten Halt und die Kinder spielten natürlich auch auf den zerbombten, aufgelassenen Panzern am Straßenrand. Sie verursachten eine Explosion, bei der ein tschechisches Mädchen des Dorfes getötet wurde. Eva Maria erinnert sich noch heute an die traurige Beerdigung mit einem gläsernen Sarg, bei der sie alle dabei waren.
Es ging zweieinhalb Monate durch das Riesengebirge und die von Deutschen besetzte Tschechoslowakei. An einem Ort wäre die Mutter Magdalena fast an der Ruhr gestorben. Ohne Kenntnis der tschechischen Sprache war es für die Erwachsenen und Eva-Maria praktisch nicht möglich, einen Arzt oder Apotheker aufzutreiben und Medikamente zu besorgen. Aber es ging gerade noch gut.
Dass sie in Prag die Moldau überquerten, erinnerte sich Heinz noch. Auch an die Toten, die im Fluss vorbei trieben und an den Soldaten, der an einer Straßenlaterne der Brücke aufgehängt war. Wohl ein Wehrkraft-Zersetzer oder Deserteur. Auf dem weiteren Weg nach Westen kamen sie nach Pilsen, das noch von deutschen Soldaten gehalten wurde. Aber es war schon die Zeit des tschechischen Volksaufstands und die Amerikaner befreiten am fünften Mai Pilsen von der deutschen Besatzung. Die Menschen des Trecks wurden von ihren Habseligkeiten getrennt, sie wurden an der Reitbahn der Stadt zusammengetrieben. Mutter Magdalena hat später erzählt, dass gesagt wurde: „Heute Nacht wird sich am Deutschen Volk gerächt“. Die deutschen Soldaten wurden gezwungen auf dem Platz zu exerzieren, teilweise wurden ihnen die Ohren abgeschnitten, die Flüchtlinge der Trecks mussten zusehen. Es herrschte eine gespenstische Szenerie mit Maschinengewehren auf LKWs, immer in Schießposition, die Flüchtlinge waren voller Todesangst. In den Stallungen der Reitbahn lagen 2 tote Neugeborene in Futterkrippen, die Frauen schnitten sich die Haare kurz und versteckten die älteren Mädchen unter ihren Röcken aus Angst vor Vergewaltigungen. Nach zwei Nächten setzten die Amerikaner dem Treiben ein Ende. Es war in der Zwischenzeit der 8te Mai, der Tag des Kriegsendes, ein Tag nach dem neunten Geburtstag von Heinz. Für weitere vier Wochen wurde der Treck in einem ehemaligen KZ interniert, Mutter Magdalena musste von frühmorgens bis spätabends arbeiten, es gab praktisch nichts zu essen und die Kinder blieben tagsüber in der Lagerbaracke zurück. Es war wie eine Erlösung als der Treck nach Furth im Wald weitergeschickt wurde, wo es endlich eine richtige warme Suppe mit Fleisch zu essen gab.
Mein Großvater Alfred war bei einer Versorgungs-Einheit auf der Halbinsel Krim und schon lange im Rückzug vor der vorrückenden russischen Front. Zusammen mit einem Kameraden, der aus dem fränkischen Markt Erlbach stammte, waren sie für zwei Pferdefuhrwerke verantwortlich. In den Wirrungen des Kriegsendes schlugen sie sich dann westwärts, mit den Pferden samt Fuhrwerken, und gelangten erfolgreich und unter dem Verlust von einigen Pferden nach Markt Erlbach in Mittelfranken.
Alfred hat sich dann auf die Suche nach seiner Familie gemacht und über die Listen des Roten Kreuzes seine Frau und die Kinder wiedergefunden. Sie fanden eine Bleibe in Markt Erlbach in der Scheune neben dem Kindergarten, zusammen mit einem der Pferde, es leistete noch lange gute Dienste bei Transportaufgaben. Dort wohnten sie fünf Jahre.
Überall gab es Flüchtlinge, die Not war groß und es gab keine Aussicht auf Rückkehr, da nach der Flucht die gezielte Vertreibung von Deutschen aus den Ostgebieten begann. Und so bekam die Familie, wie vielen andere Flüchtlinge auch, ein Grundstück in einer Siedlung zur Verfügung gestellt, mit der Auflage ein Haus zu bauen. In dem kleinen Siedlerhäuschen gebaut mit den eigenen Händen in den Jahren 1949-50, wohnte dann die siebenköpfige Familie, denn Brigitte, die Jüngste war 1947 auch noch dazugekommen. Die Wohnung bestand aus Erdgeschoss mit Wohnküche, Wohnzimmer und zwei Schlafzimmern, das Obergeschoss war noch vermietet. Wie schön war es für Eva, als sie nach Jahren endlich in ein kleines Zimmer im Obergeschoss ziehen konnte.
Dies ist eine typisch deutsche Fluchtgeschichte, wie sie unendlich oft geschehen ist. Durch Flucht und die anschließende Vertreibung ohne Rückkehrmöglichkeit fand die Verwandtschaft meiner Großeltern an vielen Orten in Deutschland ein neues Zuhause. Manche gelangten nach Leer in Ostfriesland, andere nach Heidelberg, andere nach Dortmund. Vorher hatten sie alle in Münsterberg oder Breslau gelebt.
Vor einigen Jahren sind wir mit meinen Eltern nach Dębowiec – Eichau bei Ziębice - Münsterberg - gefahren und haben uns das immer noch kleine Dörfchen, die alte „Kinderheimat“ meines Vaters Heinz und meines Großvaters Alfred besucht, mitten in der endlosen Weite der Landschaft 60 km südlich von Wrocław - Breslau. Nette Menschen haben wir kennengelernt, im Haus der Großeltern lebten ehemalige Flüchtlinge aus den polnischen Ostgebieten. Auch das Heimatdorf meiner Großmutter Magdalena, nur wenige Kilometer nördlich von Wrocław – Breslau in Ligota Piękna - Schön-Ellguth haben wir aufgesucht. Der Ort, die ehemalige Ziegelei oder das Dominium, von dem sie häufig gesprochen hatte, war praktisch nur noch zu erahnen.
Irgendwie ist damit ein Stück Familiengeschichte abgeschnitten, es gibt keinen Friedhof oder ein Grab als Ort der Erinnerung. Irgendwie verstehe ich jetzt das „Kreuz des deutschen Ostens“, das am Mainburger Friedhof steht und aus meiner Sicht „in ferner Vergangenheit“ errichtet wurde. Irgendwie ist es jetzt aktuell und ein Ort der Erinnerung an das schreckliche Ereignis der Flucht aus vertrauter Umgebung, herausgerissen aus der „Heimat“.
Gleichzeitig ist es für mich ein Ort der Mahnung. Nationalismus und jegliche Form von Ungerechtigkeit, Unterdrückung, Gewalt- und Schreckensherrschaft muss im Keim erstickt werden. Das menschenverachtende, rechtsradikale nationalsozialistische Regime hat unendliches Leid über ganz Europa gebracht. Nur wenige haben die schlaue und in sich schlüssige Polemik und Argumentation der Nazis durchschaut. Zunächst haben nur einige angefangen zu zündeln und mit großer Intelligenz neue menschenverachtende Gesetze zum „Volkswohl“ geschaffen. Doch am Ende haben viele mitgemacht und wurden letztendlich mehr oder weniger gewollt zu Mittätern. Es wurde denunziert, Unrecht begangen und Gewalt hat Gegengewalt erzeugt, sodass unendliche Gräueltaten heute auf allen Seiten bekannt sind.
Die Ecke am Mainburger Friedhof, wo das „Kreuz des deutschen Ostens“ steht, ist auf jeden Fall ein geeigneter Platz für die stille Trauer über den Verlust der Vergangenheit und den Verlust von lieben Menschen. Dennoch, so bin ich der Meinung, steht es ein wenig zu sehr am Rand.
Es wäre ein Mahnmal in der Mitte der Mainburger Gesellschaft notwendig, das auf der einen Seite an die Flucht erinnert, gleichzeitig aber auch an die Gefahren, die durch rechte Gewalt, Ausgrenzung und menschenverachtende Unterdrückung auch heute noch bestehen. So ein Mahnmal gehört dann auf den Griesplatz oder den Marktplatz – mitten im Zentrum. Nehmen wir uns ein Beispiel an Nürnberg, dort steht das Denkmal zur „Flucht und Vertreibung“ an der Mauthalle, an der täglich zehntausende Besucher auf ihrem Weg vom Bahnhof zur Lorenzkirche vorbeigehen.